Wertere Last
trägt auf dem Weg man nie
als starken Verstand:
er frommt dir mehr
in der Fremde als Gold;
er ist des Hilflosen Hort.
~ Hávamál ~
Die Wertsetzung des Verstandes als edles Gut in fremden Gefilden, wie sie uns diese wunderschöne Strophe darbietet, lehrt uns einen der wohl elementarsten Aspekte auf den verschlungenen Wegen im Leben mit den Göttern. Starker Verstand; das kann Listigkeit und Verschlagenheit auf der einen Seite sein. Als viel trefflicher in diesem Kontext betrachten wir jedoch denjenigen Verstand, der sich seines Wissens und der erworbenen Weisheit zu bedienen weiß. So wird die dargestellte Strophe beispielsweise auch bei Simrock übersetzt (dort als Strophe 10 verortet). Die Wanderung an sich – oder nennen wir es „Fahrt“ – und insbesondere das Agieren in der Fremde sind Eigenschaften, die den spirituellen Teil der Ásátru unmittelbar mit jenem unserer Ahnen zu verbinden vermag. Wir wollen uns Zeit nehmen, Wege dorthin begreifen zu suchen.
„Seid meine Skalden…“, das könnten die Worte eines Königs sein. Jemand der Intellekt und Inspiration schätzt, nach Wissen und Erkenntnis strebt und den Willen zur Überwindung besitzt. Ja, vielleicht sogar eine gewisse Widerborstigkeit in seinem Herzen trägt. Er ist jemand, der zum Kampf bereit ist, wobei Kampf in diesem Sinne nicht primär die körperliche Auseinandersetzung meint, sondern es auf einem geistigen Niveau versteht. Dies kann auch die Fähigkeit in einem selbst sein, sich zu bestimmten Handlungen aufzuraffen bzw. zu motivieren. Dazu gehört beispielsweise das Nichtabfindenwollen mit einer Situation, die ungefragt über einen kommt. Und nach dieser Geisteshaltung sucht er. Nennen wir ihn an dieser Stelle der Einfachheit halber zunächst „Fjölnir“, der viel Wissende.
Der Fäden Lauf ist nicht vollends vorherbestimmt. Zwar verläuft das Werden des Schicksals in Bahnen, so dass sich häufig eine unausweichliche Notwendigkeit ergibt, genau so zu handeln und nicht anders. Doch ist es nie vergebens, diese Wendungen selbst in die Hand zu nehmen und sich den Dingen zu stellen. Hier ergibt sich die Redewendung, dass der einfache Weg oftmals nicht der richtige sein mag.
Fjölnir sucht jene, die ähnlich denken, oder in denen er Ansätze ähnlicher Fähigkeiten erkennt. Seine Wanderschaft ist allgegenwärtig und wir spüren alsbald seine Anwesenheit, wenn wir uns der Situation bewusst werden, die uns gewoben wurde und vor der Frage stehen, welchen Pfad wir in unserer eigenen Fremde einschlagen wollen. Den des Verstandes, der Weisheit und des Wissens? Oder doch jenen anderen, der so verlockend erscheint? Hier vermag er, jenen genau diese Inspiration zu geben, die ihrer bedürfen, um eine bestimmte Situation in ihrem Leben zu überwinden. Inspiration vermag er durch seine eigene Wanderschaft, in seiner eigenen Fremde zu stiften. Er schenkt uns seine eigenen Taten, seine eigenen Entscheidungen zum Vorbild, in denen er uns zeigt, dass er nichts verlangt, was er nicht selbst in einer wesentlich düstereren Fremde gewählt hat zu tun. Freilich ist Inspiration nicht verpflichtend und er ist nicht der strahlende Sonnenheld, der mit lichtem Beispiel vorangeht. Nein, in seiner Wesensart vereinen sich Güte und Härte, Wildheit und stille Wanderschaft, naturhafte, wütende, unbeherrschte, unberechenbare, ja selbst animalische Züge. Deshalb fürchten ihn viele und wo sie ihn sehen, gehen sie auf Abstand, meiden ihn oder suchen das Weite. Er aber lacht und sagt: „Geh‘ nur, wer meiner nicht bedarf.“
Die Inspiration seiner Taten ergibt sich aus der Tragik seiner eigenen Fremde. Um das Ende der Welt wissend und mit dem Umstand vertraut, daran nichts ändern zu können, trifft er innerhalb seiner für ihn gesponnenen Situation seine eigenen Entscheidungen. Er agiert innerhalb der ihm bestimmten Fäden. Hier trennt sich die rationale Welt von der des Herzens. Ein jeder Leser möge seine eigenen Wege beleuchten. Oftmals ist es nicht der Kopf, der den richtigen Weg bestimmt. Oftmals wissen wir rational gar nicht mitzuteilen, welchen Nutzen eine Entscheidung zu stiften vermag. Fjölnir lebt dies in seiner tragischen Situation vor und seine Taten leben in den Herzen eines jeden Kriegers weiter. Denn seinem Herzen zu folgen erfordert stets den Mut des Kriegers und im Herzen finden wir auch unsere Verbindung zu den Göttern.
Heroische (und zugleich tragische) Gestalten der altnordischen Überlieferung vereinen diese Wesensart in Perfektion: Egill Skalla-Grímsson und seine Abstammungslinie sind Beispiele hierfür. Egills Großvater pflegte sich in der Abenddämmerung in einen Werwolf zu verwandeln und wurde daher Kveld-Úlf genannt, der Abendwolf. Auch sein Sohn Grím steht dieser Sphäre nahe, in dem ihn von Zeit zu Zeit besinnungslose Wut überkam und ihn zum Berserker werden ließ. In Egills Wesensart waren diese Elemente nur noch in abgeschwächter Form vorhanden, was ihn eben zu einem jener Skalden werden ließ, die Intellekt und Inspiration sowie Körper- und Willenskraft in sich vereinten.
So war er bereits in seiner Jugend bekannt für sein aufbrausendes Gemüt, war zugleich jedoch bereits in jungen Jahren mit der Runenkunst vertraut und nutzte sein eigenes Blut, um ein Horn, welches seinem Oheim zum Gifttode dargereicht, mit Runenmagie unschädlich zu machen.
Ein weiteres Beispiel zeigt sich in der Brennu-Njáls Saga. Im 75. Kapitel der Saga: Gunnar wird wegen Totschlags des Landes verwiesen. Er macht sich also auf in die Verbannung, doch da stolpert sein Pferd, so dass Gunnar absteigen muss. Er blickt zurück auf seinen Hof und spricht:
„Schön ist dieser Hang, aber so schön habe ich ihn noch nie gesehen, helle Felder und gemähte Wiesen. Ich werde nach Hause zurückreiten und nirgends hinfahren.“ (Isländer Sagas 1, Fischer, S. 596)
In diesem Fall überwiegt die Tragik seiner Entscheidung, weil er weiß, dass ihn dies sein Leben kosten wird. Hier lässt sich auch die Tugend der Standhaftigkeit auf die Probe stellen: Führte man die Saga in eine alternative Richtung und erzählte, dass der Protagonist seine Verbannung annähme und nach geraumer Zeit zurückkehrte und sich durch eigene Schaffenskraft eine neue Existenz aufbaute, würde ein jeder von uns von Standhaftigkeit und dem Gebrauch des Verstandes sprechen. Hier spricht jedoch das Herz des Skalden und er will diesem folgen aus Überzeugung und Liebe. Hier kann das Trotzige in seinen Worten jedem von uns als kraftvolles Beispiel dienen, einer scheinbar ausweglosen Situation dennoch die Stirn zu bieten.
Etwas, das uns bedrückt und eventuell von existenzieller Bedeutung ist, das uns in die Knie zwingen will, öffnet unser Herz für die Götter und wir sollten in uns genau diese Kräfte aktivieren: Das Skaldische im Sinne von Verstand, Geisteskraft und Herzblut, das seine Entfaltung in der Handlung findet. Wir begegnen hier dem Wanderer Fjölnir, der in ungleich härteren Situationen sich für sein Herz entschieden und sein selbst geopfert hat, um sein Wissen zu mehren, die bevorstehende Gewissheit vielleicht dennoch abwenden zu können. Wenn Du heute also Runen ritzt, dann erinnere Dich daran, dass Du es nur deshalb kannst, da er sich in seiner Fremde so entschieden hat, wie er es tat.
Wenn wir von Skalden berichten, so ist gewiss, dass ein jeder Leser bereits ein Bild vor Augen haben wird. Zumeist gehen wir davon aus, dass ein Skalde das Bild eines Barden oder Dichters zu erfüllen vermag. ING und ich vereint ein großer Bezug zu Allvater Odin und wir haben uns für die Vorstellung Fjölnirs entschieden, da dieser seiner Namen den Aspekt des Wissens und der Wissensmehrung im Hinblick auf seine Fremde am trefflichsten wiederspiegelt. Begreifen wir diese Tragik jedoch in ihrer Gänze, kommen wir nicht umhin auch zu verstehen, dass ein Skalde weitaus mehr sein muss als lediglich ein Dichter. Allvater – Walvater – Heervater – Fjölnir. Seinen Weg zu verstehen und seine Fremde und davon zu berichten ist des Skalden Weg. Die Symbiose aus Dichtkunst und Kampf bildet exakt Odins Tragik ab. Die Kunst, zu dichten und kunstvoll zu berichten beinhaltet auch stets die Fähigkeit, die Herzen derer zu berühren, die zuhören. Hier ist der Skalde Poet und wird, widmet er sich den Geschichten und Taten der Götter mit seiner Fähigkeit thulr, der Kultredner.
Ein vierzehntes kann ich,
soll ich dem Volk der Menschen
die Himmlischen herzählen:
von Asen und Alben
weiß ich alle Kunde;
kein Witzloser weiß davon.
Die Zauberlieder 14
Bedenken wir unseren individuellen Lebenspfad mit den Göttern als Kunst und unsere Nähe zu ihnen als Ziel, das zu erreichen unsere Herzen erhellt, ist es nicht wesensfremd, unseren spirituellen Pfad als Weg eines Skalden, eines Kriegerpoeten zu betrachten. Denn die Grundlage der Skaldenkunst kann bereits jedes kleine Ritual bilden, in dem wir unsere Kunde von Asen und Alben tun. Hier sind wir Poeten.
Zu Kriegern werden wir letztlich, wenn Wut, Zorn oder Traurigkeit in uns aufkommt. Denn dies sind genau jene Emotionen, die wir spüren wenn etwas Unvorhergesehenes mit (für uns) negativen Auswirkungen eintritt. Doch reine Wut oder reine Traurigkeit bringen keinen weiter, aber es ist vielleicht gut zu wissen, dass sie genau aus dieser Urquelle stammen, deren Kräfte aber beherrscht und gelenkt werden müssen. Schaffen wir dies, werden wir eines Abends einen Wanderer sehen, von dem wir meinen, dass er uns ein Zeichen gibt – oder zwei Raben fliegen über uns hinweg… Fjölnir, der viel Wissende, der Wanderer…der Allvater.
Die Walküre: Nach den Skalden will ich Dich fragen, da Du Bescheid wohl weißt: Kennen musst Du der Krieger Treiben, die in Haralds Halle sind.
Der Rabe: An ihren Röcken sieht man´s und den Ringen von Gold, dass sie des Fürsten Freunde sind: Sie tragen rote Pelze, reichumbortete, ringgeflochtne Brünnen, geritzte Helme, Schwerter im Goldgehänge mit Griffen von Silber, Ringe um´s Handgelenk, die ihnen Harald schenkte.
Haraldskvæði 17, 18
Danke für diesen Satz !
“ Wenn Du heute also Runen ritzt, dann erinnere Dich daran, dass Du es nur deshalb kannst, da er sich in seiner Fremde so entschieden hat, wie er es tat.“
Hilfreich, wie auch mahnend und zugleich aufmunternd.
Lieber Thomas,
vielen Dank für Deinen schönen Kommentar. Ich finde, wir können uns viele Fragen oftmals erschließen, indem wir uns mit forschenden Sinnen den Blick auf die Götter richten.
Gute Zeit Dir und den Deinen
Gruß
DAN