Ich habe lange überlegt, wie ich das Thema nenne. Vielleicht eine schön klingende Umschreibung, aus der die Andeutung hervorscheint und im ersten Absatz klar werden lässt, worum es geht… ich mag sowas. Hier aber nicht. Schnörkellos und sachlich möchte ich ein Thema ins Bewusstsein rücken, das mich schon seit Jahren beschäftigt. Viele gute Menschen haben das heidnische Umfeld verlassen und ihre Schritte ganz unterschiedlich begründet. Ich kann sie nachvollziehen, teile sie aber nicht. Es übersteigt natürlich meine zeitlichen Grenzen, mich eingehend mit jeder persönlichen Entscheidung schriftlich-analytisch auseinanderzusetzen, obschon sie es wert wären, allein um daraus Schlüsse für die Alte Sitte zu ziehen.
Nun hat erneut ein langjähriger Asentreuer seine Segel gestrichen, um in christliches Fahrwasser überzusetzen. Ich hege weder Groll noch Enttäuschung, sondern sehe immer den Menschen an sich und wünsche ihm Glück und Erfüllung. Seine Gedanken hat er in einem Blogbeitrag veröffentlicht – und dies möchte ich zum Anlass nehmen.
Vorab
Als ich etwa um das Jahr 2000 begann, mich verstärkt im organisierten germanischen Heidentum umzusehen, geschah das aus dem Wunsch heraus, mich endlich in größerer Form mit Gleichgesinnten austauschen zu können.
Es war auch damals schon so, dass viele aus einem christlichen Erfahrungshorizont ins germanische Heidentum kamen. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Abgesehen von den Kindern, die von ihren bereits heidnischen Eltern in eine nichtchristliche Familie geboren wurden. Doch auch diese kommen über den Kindergarten oder spätestens der Schule mit christlichen Inhalten in Berührung.
Aus einem sozialen Umfeld christlicher Prägung, das auch regional stärker oder schwächer ausgelegt sein kann, geht dem bewussten Schritt in Richtung Heidentum häufig eine adoleszente Entwicklungs- und Loslösephase voraus, die mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter die freie Entscheidung mit sich bringt, „alte Zöpfe“ abzuschneiden und mit den Entscheidungen der Eltern, oft mit Zwängen und Nachdruck verbunden, gründlich aufzuräumen.
Die Motivation oder generell auch die entwicklungsbedingten Faktoren, die einen Menschen initial dazu bewogen haben, sich dem Heidentum zuzuwenden, können sich also im Verlauf der Jahre oder Jahrzehnte grundlegend verändern. Vielleicht sogar so weit, dass eines Tages der entgegengesetzte Weg ansteht; die Umkehr zurück ins Christentum.
Wenn aus Heiden Christen werden
Kann ein inbrünstiger germanischer Heide wieder in christliches Fahrwasser gelangen? Ist sowas möglich? Vielleicht werden manche denken: Ja, doch wenn überhaupt nur die wankelmütigen, noch ungefestigten und eh nie so richtig angekommenen Neulinge. Jene also, die beim ersten Anflug von Zweifeln den Rücksprung in wohlbekannte Gefilde nehmen, in die starke Feste. Oder eventuell auch dem Außendruck erliegen, also den Erwartungen nach gesellschaftlicher Konformität, dass man sich einzureihen habe und diesem Umfeld nicht länger standhalten könne oder wolle…Nicht jeder will damit leben, immer auch ein stückweit Gegenkultur vor sich herzutragen.
Doch in den meisten Fällen scheint es gerade das nicht zu sein. Jene Menschen, die ich im germanischen Heidentum kennengelernt habe und die später zum Christentum gewechselt sind, kamen meist zuvor aus einem christlichen Umfeld (Schule, Familie etc.) ins Heidentum; sind also keine „neuen Christen“ geworden. Und bei dieser „Rückbesinnung“ scheinen Außenimpulse nicht im Vordergrund gestanden zu haben, sondern mehr die innere Überzeugung aus einer längeren Wandlungs- und Ablösephase gereift zu sein, die Bindung zum germanischen Heidentum zuerst für sich selbst und dann auch öffentlich aufzukündigen. Interessant zu beobachten ist, dass diese Personen oft jene sind, die lange (> 8 Jahre) im heidnischen Umfeld aktiv tätig waren, sich mit den Grundsätzen tiefgehend beschäftigt haben und sich in einer fortgeschrittenen Lebensphase befinden.
Ich wurde mal gefragt, wie ich persönlich dazu stehe. Zu jenen, die in dieser Schaffensphase ihres Lebens viel für das Heidentum geleistet haben, als Schreiber und Schriftsteller, als Initiatoren von Projekten, als Verleger, als Webseiten- und Blogbetreiber, als Künstler und vieles mehr – und unauslöschlich ihren Fußabdruck durch nachhaltige Werke gesetzt haben. Ich respektiere jede Entscheidung und mache niemandem einen Vorwurf. Natürlich finde ich es immer schade, doch in den seltensten Fällen kommt es wirklich überraschend. Das ist eben der Lauf der Dinge. Die vielen persönlichen Gespräche schaffen ein tieferes Verständnis und lassen mich manche Entscheidung nachvollziehen.
Wobei in allen mir bekannten Fällen ein für die Entwicklung des Heidentums besonders bitterer „brain drain“ zu verzeichnen ist, also der Verlust an Talenten – die im Grunde jede Strömung nötig hat. Denn all diese Personen sind durchweg von hoher Schaffenskraft gekennzeichnet, die sowohl nach innen als auch nach außen gewirkt haben. Bei so einem Weggang bleibt immer eine klaffende Lücke zurück, die sich aufgrund der individuellen Prägung seltenst wieder schließen lässt.
Einer dieser Menschen war im Ásatrú-Umfeld als Pileatus bekannt. Mit seiner Gabe, tiefsinnige und bildreiche Texte zu verfassen, hat er einiges an Erkenntnissen eingestreut und oft dort Themen ins Licht gerückt, wo andere heute noch im Dunkeln tappen. Nun ist er unserer Wirkstätte verloren gegangen, wobei er seine Beweggründe in einem Text beschreibt, den ich an dieser Stelle mit seiner freundlichen Genehmigung aufgreifen möchte:
Vom Sumbelhorn zum Rosenkranz
Es war der Vorabend des ersten Wintertags. Ich stand im Wald. Vor mir stürzte sich ein Bergbach über die Felsen. Ich hielt das Horn in der Hand. 18 Jahre lang, ein halbes Leben lang, war dies mein Brauch gewesen. Im Herbst, im Winter und im Frühling sammelte ich meine Freunde um dieses Horn. Immer war es voll mit Bier und Met. Ich hob es in den Himmel und rief den Donar, den Wuodan und die “Frouwe”.
Wenn ich dann einen mächtigen Schluck nahm und das Bier mir in den Bart rann, glaubte ich sie zu spüren, die pralle Lebenskraft, die diese Götter für mich versinnbildlichten. Gerne sprach ich von der „Lebenswut“. Mit jeder Runde steigerte sich die Kraft. Alles schien heilig. Nicht selten endeten die Feste in völliger Betrunkenheit. Auf sie folgten graue Tage voller Sehnsucht nach dem Gefühl, das ich da in den Bergen, das Horn in der Hand, erfahren hatte.
An diesem Abend war alles wie immer. Bis auf ein kleines Detail. Im Horn war kein Met.
Nun stand ich also da und rief sie wieder, die Urmächte. Doch der Süssmost schien ihnen nicht zu schmecken. Keine Kraft fuhr in mich, als ich auf den Donner trank. Keine Wut stieg in mir auf, als der Name Wuodans über meine Lippen ging. Erst in der dritten Runde, jener auf „die Frau“, geschah etwas seltsames. Es war, als ob sich mir im Anblick des Wasserfalls etwas zuwandte. Eine grosse Schönheit. Nicht Wildheit, wie ich es erwartet hatte. Eher eine schwer zu beschreibende Anmut und Sanftheit.
Ich ging zurück in mein Leben und dachte oft an „die Frau“. Ich las viel über die weiblichen Wesen des Landes, die Matronen, die Göttinnen der Flüsse. Kam am Ende zum Schluss, dass bei den alten Germanen nur die Kriegsherren mit ihrem Gefolge die „wilden Götter“ verehrten. Dass für alle anderen weibliche Wesen, die Disir, im Mittelpunkt der Verehrung standen. Dass in diesen Disir eine grosse Göttin sich im Lokalen, im konkret Erlebbaren zeigte.
Ich fragte mich, wer unsere Dise war. Ich erinnerte mich an eine.
Zuhinterst im Tal der Luthern, am Ausgang eines Chrachens, der vom Napf herunter führt, fliesst ein klarer Brunnen. Ein Jakob Minder hatte ihn freigelegt, nach dem ihm in der Nacht eine wundersame Frau erschienen war. Das Wasser heilte ihn und viele andere. Heute steht dort eine kleine Kapelle mit einem Marienbild. Ich war hier oft zum wandern. In einer schweren Zeit bat ich sie, aus einer Eingebung heraus, um Unterstützung. Ich trank von ihrem Wasser. Es half.
Ich fragte mich, wer sie wohl sei, die Matrone von Luthern Bad, die mir so wunderbar beigestanden hatte. Immerhin klang das alles nach einer hervorragenden Geschichte. Ich wurde schnell fündig. Die Frau, die Jakob Minder in der Nacht erschienen war, hatte er als die schwarze Madonna von Einsiedeln identifiziert.
Ich fuhr nach Einsiedeln.
Lange sass ich vor dem Gnadenbild. 18 Jahre lang hatte ich von Tradition gesprochen und damit etwas gemeint, dass ich selbst erschaffen hatte. Nun sah ich gewöhnliche Menschen, die in der Mittagspause wie beiläufig in die Kirche huschten, um vor dem Gnadenbild innig zu beten. Seit Jahrhunderten stand es hier. Generationen hatten hier ihre Herzenswünsche ausgeschüttet.
Ich kaufte mir eine Miniatur des Gnadenbilds und nahm sie mit nach Hause. Sie sollte meine Dise sein und auf dem Altar neben den heidnischen Götterbildern stehen. Doch je länger ich meinen Altar umgestaltete, desto düsterer erschienen mir Odin und Thor. Am Ende eines langen Abends war der Altar leergeräumt. Wie eine geschlagene Armee standen die Götterbilder auf dem Boden. Oben thronte die Jungfrau Maria. Und ich fühlte einen Frieden wie seit Kindertagen nicht mehr.
Aus dem heidnischen Altar ist mittlerweile ein kleines Gebetshaus geworden. Noch immer steht die Miniatur des Gnadenbildes im Zentrum. Anstelle der täglichen Meditation ist der Rosenkranz getreten. Ich bete ihn jeden Tag. Aus Dankbarkeit für die Hilfe Unserer Frau vom Finsterwald, so sage ich gerne. Aber eigentlich es geht mir nicht um den Glauben, denn ich bin ein schlechter Gläubiger. Mir geht es um das Ritual. Es ist altbewährt und solide. Es gibt mir eine halbe Stunde am Tag, in der ich auf eine wahrere und tiefere Weise bin, als dass ich es um Trubel des Alltags sein kann.
Ich bin fest überzeugt davon, dass wir Menschen keine Psyche haben, sondern dass wir in der Psyche leben. Um mit ihren Kräften umzugehen, brauchen wir Rituale. So sehe ich auch die Liturgie der Kirche. Mir scheint, dass sie von einer grossen Heilung erzählt, dem Zusammenwachsen einer zerrissenen Welt. Die Beichte, die Wandlung, die Kommunion: Es sind Elemente einer antiken Traumatherapie.
Denn das Christentum war in seinen Anfängen die Religion konvertierter Heiden. Nicht selten waren es Menschen, die Schreckliches erlebt hatten. Legionäre. Prostituierte. Witwen und Waisen. Sie hatten an der Welt gelitten, in der sie lebten. Doch sie glaubten, dass nun ein gewaltiges Ereignis die Macht der alten Götter für immer gebrochen hatte.
Das mit diesen etwas nicht stimmen konnte, war längst bekannt. Ovid beschreibt es ebenso wie die Völuspa aus Island tausend Jahre später: Einst hatten Götter und Menschen in einem goldenen Zeitalter gelebt. Doch die Götter hatten versagt, sich schuldig gemacht, sich im Netz der Notwendigkeiten verfangen. Seither ging es abwärts mit der Welt. Bereits hatte das eiserne Zeitalter, die Wolfszeit, begonnen, und das Ende war nahe. Wenn die frühen Christen die heidnischen Götter als Engel beschrieben, die in der Urzeit gestrauchelt seien und auf der Erde ein Reich des Mutwillens errichtet hätten, bestätigten sie nur, was die Heiden schon lange selber glaubten.
Denn die Welt der alten Götter war hoffnungslos und brutal. Alles drehte sich um Macht und Kraft. Das Heilige war immer dann präsent, wenn sich im Überschwang des Triumphs der Himmel auftat und die Unsterblichen den Sterblichen winkten. Aber hinter der Fassade des Vitalismus lauerte eine uralte Traurigkeit. Letztlich war all dieses heroische Kämpfen und Ringen um Ruhm und Ehre doch ein Tanz mit dem Absurden. Vielleicht brauchte das heidnische Fest deshalb den Rausch. Der nüchternen Betrachtung hielt es nicht stand.
Die junge Kirche sah in den Tugenden der Heiden “glanzvolle Laster”. Einer Welt, in der sich letztlich alles um Selbstbehauptung und Glorie drehte, setzte sie etwas Verborgenes entgegen. Etwas, das ins sich ruhte. Man nannte es “das ewige Leben” oder “das Reich Gottes”. Es erwuchs aus der Leere, die das Erkennen des Absurden hinterlassen hatte.
Man machte die Erfahrung, dass in dieser Leere eine Befreiung lag. Wo der Tanz um das eigene Ego endlich zum Stillstand kam, entstand Raum für die Begegnung mit dem Anderen. Dem anderen Menschen, aber auch jenem “gänzlich Anderen”, das die Christen als DEN Gott proklamierten. Dieser war seinem Wesen nach etwas völlig anderes als das, was die Heiden bisher als Götter verstanden hatten.
Was die Christen als ihren Gott entdeckt hatten, war keine weitere Wirkmächtigkeit im Kosmos. Es war nichts weniger als das absolute Sein. Und dieses dachten sie sich als vollkommene Liebe. Das war keine Schwärmerei, sondern folgte einer durchdachten Argumentation.
Wenn in der Welt alles kausal miteinander verbunden ist, dann ist alles was existiert, durch etwas anderes bedingt. Irgendwo aber, so die Vermutung der Kirchenväter, muss dies auf eine letzte Bedingung führen, die selbst durch nichts bedingt ist. Alles andere wäre keine Erklärung, sondern lediglich ein Eingeständnis des Nichtwissens. Von diesem als einzige mögliche Erklärung angenommenen Unbedingten muss alles Bedingte abhängen. Da das Unbedingte definitionsgemäss keine Bedingung kennt, ist es weder durch Raum noch Zeit noch irgendwelche Umstände begrenzt. Es ruht gänzlich in sich selbst und kennt keine Notwendigkeit und kein Ziel, denn es genügt sich selbst vollkommen. Wenn es also selbst etwas bedingt, dann nur, weil es dies aus sich heraus so will.
Das bedeutet wiederum, dass das Unbedingte als Bewusstsein zu denken ist – ohne Bewusstsein kann es keinen Willen geben. Ohne jede Not, ohne jeden zu erwartenden Vorteil erschafft dieses Bewusstsein aus dem Nichts. Damit ist die Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt, auf einen freien, völlig selbstlosen Willensakt zurückzuführen. Das wäre aber nichts anderes als eine Äusserung vollkommener Liebe. Und weil etwas Unbedingtes in seiner Willensäusserung durch nichts beeinflusst werden kann, ist es mit seinem Willen und Tun identisch. Das wiederum bedeutet, dass die erste Bedingung, die alle Existenz bedingt, selbst vollkommene Liebe ist.
Zu einem so verstandenen Gott konnte man sich nicht länger mit blutigen Händen und vollen Weinschalen erheben. Das Opfer, das er forderte, war Liebe für die Menschen und die gesamte geschaffene Welt. Und das erfordert nicht Stolz, sondern Demut. Umkehr. Wer sich dem ewigen Sein, das Liebe ist, zuwandte, sollte nüchtern und wachsam sein. Er sollte aufhören, sich über andere zu erheben und so seine eigene Identität zu vergotten: Seinen sozialen Status, seine Abstammung, seinen Staat, seinen athletischen Körper, seinen Reichtum, seine eigenen Heldentaten.
Im andauernden Gebet sollte der Mensch sich leeren. Er sollte sich seiner Schwäche bewusst werden und lernen, die Fallstricke seiner Leidenschaften zu erkennen. Auf diese Weise sollte er offen werden für das, was wie ein unveränderlicher Himmel über dem Wolkenspiel steht, in dem die Heiden noch ihre Götter erblickt hatten. In diesem neuen Licht schliesslich sollte er Sinn und Heilung finden – um dann andere zu heilen.
Früher war mein Leben nur das Warten auf Grosses, das bald zu geschehen hatte. Reisen, Bergtouren, berufliche Erfolge, all das war ich dem Leben in mir schuldig, so glaubte ich. Aber in die angetrunkene Vorfreude mischte sich stets Furcht und Unzufriedenheit. Ich lebte im Geist der Rebellion. Ich habe meine grossen Träume losgelassen. Sie flogen davon wie Luftballons. Nun stehe ich fester am Boden, um andere stützen und tragen zu können. Damit ist Sinn in mein Leben gekommen.
Wachsam und nüchtern wollten die frühen Christen sein. Wir sind nicht, was wir gerade fühlen. Schon in ein paar Stunden fühlen wir vielleicht anders. Würden wir auf unsere innere Stimme hören, wir wären Narren. Oft genug hat sie uns betrogen und in die Irre geführt. Wir glauben ihr nicht mehr. Die wilden Götter haben ihren Schrecken und ihre Faszination verloren. Sie sind zu Zwergen und Kobolden geworden. Das ist es, was das Christentum mit der alten Welt gemacht hat. Es hat die heidnischen Traditionen nie gebrochen. Es hat sie neu geordnet. Es hat die Verehrung von den diesseitigen Göttern des Lebenskampfes verlagert auf ein Urprinzip, das über dem “Stirb und Werde” steht.
“Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen“, sagte Epiktet, der grosse heidnische Philosoph. Im sanften Licht der wachsamen Nüchternheit verblasst das Schattenspiel der “Urkräfte”, die doch ihrem Wesen nach ebenso flüchtig sind wie wir selbst. Ich weiss, dass ich ohnehin alles annehmen muss. Es bleibt meine Freiheit, zu entscheiden, ob ich es in Angst und Wut tun will – oder in Gelassenheit und Liebe.
Ich glaube, dass wir uns in unserem Leben öffnen können. Und dass wir dann über die Banden unserer biologischen, ethnischen und sozialen Beschränkung hinauswachsen. Sie sind die alte Schlange, die uns von Geburt an umschlingt und trennt vom eigentlichen Sein.
Ich glaube, dass der selbstlose Weg uns an einer Ewigkeit teilhaben, und dass uns der andere an einem kalten und einsamen Ort verharren lässt. Ich glaube, dass sich jeden Tag aufs neue entscheidet, was unser Leben am Ende gewesen sein soll: Öffnung oder Einschliessung.
Ich glaube, dass Heilung geschieht, wenn das ewige Sein sich unvermischt und ungeteilt mit unserem Menschsein verbindet. Ich glaube, dass das ewige Sein, wenn es in einem menschlichen Leben lebt, die Forderung der Bergpredigt erhebt. Ich glaube, dass ich an dieser Forderung nur scheitern kann. Aber auch, dass mir das Licht deswegen nicht verborgen bleibt.
Denn in Maria hat es die ganze geschaffene Welt durchdrungen, und aus ihr scheint es mild und farbenfroh in unser Leben herein. Für mich sind die Titel der Jungfrau mehr als nur poetische Umschreibungen. Sie ist die Morgenröte, sie ist der Baum des Lebens, sie ist der Stern des Meeres und die Königin des Himmels.
Maria ist vom ewigen Sein durchdrungene Sinnlichkeit. Sie trägt Sonne, Mond und Sterne in sich, weil sie in sich aufgenommen hat, was das Universum umfängt.
Maria ist das Ja der Schöpfung zu ihrem Schöpfer, des Daseins zum Sein. In ihr erhebt die Welt sich zu Gott. Sie allein hat der alten Schlange das Haupt zertreten, und durch ihren Körper ist das Licht in die Welt gekommen. In ihr gewinnt der Kosmos die Makellosigkeit zurück, die ihm doch eigentlich eigen ist. Und so ist es auch mit uns, die wir Teil dieses Kosmos sind, und damit Teil von ihr. So ist sie tatsächlich “unser Leben, unsere Wonne, unsere Hoffnung”, wie es die Mönche von Einsiedeln seit Jahrhunderten singen. Jeden Tag.
Ich würde gern ein wenig darüber nachdenken und vielleicht das eine oder andere Detail diskutieren. Wer sich beteiligen möchte, kann gern die Kommentarfunktion benutzen. Dass dies ausschließlich im sachlichen und respektvollen Ton geschieht, ist wohl selbstverständlich.
Aus Zeitgründen unterteile ich meine Befassung in mehrere Teile, angefangen mit…
Teil 1
Alkohol
Mir fällt bereits beim ersten Lesen eine deutliche Erwähnung alkoholischer Getränke auf, die sich insgesamt über neunmal im ganzen Text fortsetzt. Das hat mich zunächst gestört, weil ich die rituellen Feste der Alten Sitte nicht als Saufgelage verstanden haben möchte. Sicher wird auch gelegentlich bei uns etwas getrunken, aber als bestimmenden Faktor im Ablauf unserer Feste würde ich es nicht bezeichnen.
Meine Frau machte mich dann jedoch auf unsere früheren Feste aufmerksam und meinte, dass gerade die größer ausgelegten Sommersonnenwenden in einer Wallburg, wo wir teilweise auch in Zelten übernachtet haben, schon zu fortgeschrittener Stunde in einen mächtigen Umtrunk mündeten. Und ja, Parallelen sind nicht zu übersehen.
Mir sind jedoch auch Organisationen mit striktem Alkoholverbot bekannt.
Ein elementarer Aspekt bleibt jedoch unumstößlich, dass den Göttern – und insbesondere Odin – Met als Opfergabe dargebracht wird. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil in meinen Ritualen, was mythologisch begründet ist und nicht zugleich bedeutet, dass auch ich etwas von dem Met trinke. In der Symbolik der Alten Sitte kommt dies in den zwei Hörnern (vor dem Eidring) zum Ausdruck.
Nun kann man aber auch im Rotwein des katholischen Abendmahls, der Eucharistie, ein Weinopfer sehen kann. Es geht aber vermutlich um etwas anderes; um den teils exzessiven Alkoholgenuss bei heidnischen Feiern, der strukturell zu einer völligen Verplattung und eben nicht zu einer Vergeistigung religiöser Inhalte führt.
Lieber Ingmar,
zwei Anmerkungen: Met opfern und selbst davon nicht trinken, empfinde ich als komisch. Es geht doch um die Verbindung mit den Göttern: „ich gebe von dem, was ich habe“… Mahlgemeinschaft bedeutete für mich ganz klar, daß ich von dem, was ich trinke, auch opfere. Met opfern, aber nicht selbst während des Opfers davon trinken, das fühlt sich für mich nicht richtig an.
Der Wein bei der Eucharistie ist natürlich kein Opfer, sondern das „Blut Christi“, wovon die kath. Kirche glaubt, daß Jesus darin tatsächlich anwesend ist. Das ist m.E. eine komplett andere Vorstellung als die vom „Do-ut-Des“ im germanischen Heidentum. Ob beide Versionen „wirken“, das lasse ich mal dahingestellt. 😉
Ich verstehe Pileatus gut: Je „vorgeglühter“ jemand zum Blot kommt, desto lauter der „Heil-Odin-Toast“. Alkohol und Ekstase sind auch für mich mit dem Heidentum verbunden. Auch ich glaubte immer, nach (etwas) Alkohol die Götter im Wind und auch im Blut zu spüren.
Beim Christentum ist es für mich aber anders: ich bete nicht, wenn ich Alkohol getrunken habe, nur nüchtern. Dann spüre ich am ehesten auch diese Sanftheit, von der Pileatus spricht.
Grüße!
Der Zugang zu anderen Welten öffnet sich mal so und mal so…..und ich nehme es wie es kommt. Wenn das Tor sich öffnet ist es mit – ganz deutlich ! – egal, ob ich nüchtern bin oder eben schon was getrunken habe. Denn ich habe beides erlebt und nüchtern eher als mit Alkohol. Die Christen mit ihrem allheiligen Wissen von Recht und Unrecht , von Wahrheit und Irrglaube….das war mir schon immer suspekt.
Tach Volker. Die Sache mit dem Horn und dem Met war von mir verkürzt dargestellt, von daher kann das eventuell etwas missverständlich rübergekommen sein.
Natürlich handhaben wir es in unseren gemeinschaftlich angelegten Ritualen so, wie wir es kennen: Aus einem kreisenden Gemeinschaftshorn wird geopfert UND getrunken. Bei privaten bzw. eigenen (Dank- oder Bitt-)Opfern außerhalb der jahreszeitlichen Reihe mache ich das allerdings tatsächlich manchmal anders. Ich habe ein Horn, das allein den Göttern vorbehalten ist. Aus diesem Horn opfere ich dann selbstgemachten Met. Und in diesem Sinne sehe ich’s ganz wie du schreibst „ich gebe von dem, was ich habe“. Bei Waffenopfern (oder generell Opferungen fester Materialien) ist das ja nichts anderes. Ich opfere den Göttern etwas, was mir viel bedeutet. Dafür muss ich meiner Ansicht nach nicht zwangsläufig ein Stück aus dem Eisen herausbeißen. 😉
Das belegen dutzende Moorfunde…
Interessant ist das mit dem Wein bei der Eucharistie. Hier wird geglaubt, daß Jesus darin tatsächlich anwesend sei. Beim Sumbelhorn ist es das von den Göttern im Blót gewährte Heil, das in das verbindende Medium (Met) übergeht und dann getrunken wird. Siehste… ich wusste es doch; da ham’se uns wieder was nachgemacht… ;-)… Jesus im Wein, tsetsetse 😉
Guten Morgen. Leider kann ich den Link zwar öffnen, aber keinen Inhalt mehr sehen.
Was den Alkohol betrifft, so habe ich direkt einen Einwand…. Gerade WEIL mit das Heidentum nicht mit dem erhobenen Zeigefinger kommt und mir eben nicht erklären will, das dies und jenes Sünde ist, gerade WEIL ich die Feste mit dem Alkohol feiern „darf“ der mir beliebt ( und ja, ich bin leidenschaftlicher Biertrinker/Whiskytrinker, aber weder trage ich einen Bierbauch, noch bin ich süchtig), fühle ich mich im Heidentum wohl. Eine heidnische Organisation mit striktem Alkoholverbot würde ich ebenso ablehnen wie das Christentum. Den angesprochenen exzessiven Alkoholgenuss bei heidnischen Feiern kann ich nicht beurteilen, da ich an so etwas noch nie teilgenommen habe. Meine eigene Feier zur Sommersonnenwende gestalte ich bewußt und gewollt mit Alkohol, ohne jede Reue am Tag danach. Für mich bedeutet es viel, mich in dem Glauben den ich angenommen habe wohl zu fühlen. Dazu gehört für mich eben manchmal auch Alkohol. Dieser Kommentar berücksichtigt jetzt leider weniger das Gesamtthema, aber diese Gedanken drängten sich deutlich nach vorne.
Vielen Dank, Thomas. Ich sehe das wie du. Und meiner Ansicht nach ließe sich ein Verzicht oder gar ein Verbot auch kaum mythologisch begründen. Was nicht automatisch heißt, dass man Alkohol im heidnischen Ritual trinken MUSS, selbst wenn man nicht möchte. Gemeint ist, dass sich ein Verbot lediglich von weltlichen (nicht religiösen Zwecken dienenden) Regularien ableiten ließe. Beispielsweise wenn in einer Gruppe Probleme aufgetreten sind. Ich kenne die genauen Hintergründe derartiger Organisationen aber nicht, die ein Alkoholverbot bei ihren Feiern verordnen. Generell sind das dann aber auch Gruppen, die von vornherein schon stark hierarchisch aufgebaut sind und sich strikte Ordnungen auferlegen. Gruppen also, die gar nicht mit unserem Wertebereich übereinkommen. Von daher war es vielleicht auch ein schlechtes Beispiel von mir.
Jedenfalls sehe ich es auch so, dass mit einem Blót auch ein Kultmahl verbunden ist (oder sein kann) und dabei eben auch Met, Bier, Wein oder ähnliches getrunken wird. Ich hätte unsere Vorfahren nicht anders eingeschätzt…
Heihei
Sorry für das schlechte Timing – ich habe den Blog gestern gelöscht, aus privaten Gründen. Ich stelle den verlinkten Text zur Dokumentation hier rein:
*Vom Sumbelhorn zum Rosenkranz*
Es war der Vorabend des ersten Wintertags. Ich stand im Wald. Vor mir stürzte sich ein Bergbach über die Felsen. Ich hielt das Horn in der Hand. 18 Jahre lang, ein halbes Leben lang, war dies mein Brauch gewesen. Im Herbst, im Winter und im Frühling sammelte ich meine Freunde um dieses Horn. Immer war es voll mit Bier und Met. Ich hob es in den Himmel und rief den Donar, den Wuodan und die “Frouwe”.
Wenn ich dann einen mächtigen Schluck nahm und das Bier mir in den Bart rann, glaubte ich sie zu spüren, die pralle Lebenskraft, die diese Götter für mich versinnbildlichten. Gerne sprach ich von der „Lebenswut“. Mit jeder Runde steigerte sich die Kraft. Alles schien heilig. Nicht selten endeten die Feste in völliger Betrunkenheit. Auf sie folgten graue Tage voller Sehnsucht nach dem Gefühl, das ich da in den Bergen, das Horn in der Hand, erfahren hatte.
An diesem Abend war alles wie immer. Bis auf ein kleines Detail. Im Horn war kein Met.
Nun stand ich also da und rief sie wieder, die Urmächte. Doch der Süssmost schien ihnen nicht zu schmecken. Keine Kraft fuhr in mich, als ich auf den Donner trank. Keine Wut stieg in mir auf, als der Name Wuodans über meine Lippen ging. Erst in der dritten Runde, jener auf „die Frau“, geschah etwas seltsames. Es war, als ob sich mir im Anblick des Wasserfalls etwas zuwandte. Eine grosse Schönheit. Nicht Wildheit, wie ich es erwartet hatte. Eher eine schwer zu beschreibende Anmut und Sanftheit.
Ich ging zurück in mein Leben und dachte oft an „die Frau“. Ich las viel über die weiblichen Wesen des Landes, die Matronen, die Göttinnen der Flüsse. Kam am Ende zum Schluss, dass bei den alten Germanen nur die Kriegsherren mit ihrem Gefolge die „wilden Götter“ verehrten. Dass für alle anderen weibliche Wesen, die Disir, im Mittelpunkt der Verehrung standen. Dass in diesen Disir eine grosse Göttin sich im Lokalen, im konkret Erlebbaren zeigte.
Ich fragte mich, wer unsere Dise war. Ich erinnerte mich an eine.
Zuhinterst im Tal der Luthern, am Ausgang eines Chrachens, der vom Napf herunter führt, fliesst ein klarer Brunnen. Ein Jakob Minder hatte ihn freigelegt, nach dem ihm in der Nacht eine wundersame Frau erschienen war. Das Wasser heilte ihn und viele andere. Heute steht dort eine kleine Kapelle mit einem Marienbild. Ich war hier oft zum wandern. In einer schweren Zeit bat ich sie, aus einer Eingebung heraus, um Unterstützung. Ich trank von ihrem Wasser. Es half.
Ich fragte mich, wer sie wohl sei, die Matrone von Luthern Bad, die mir so wunderbar beigestanden hatte. Immerhin klang das alles nach einer hervorragenden Geschichte. Ich wurde schnell fündig. Die Frau, die Jakob Minder in der Nacht erschienen war, hatte er als die schwarze Madonna von Einsiedeln identifiziert.
Ich fuhr nach Einsiedeln.
Lange sass ich vor dem Gnadenbild. 18 Jahre lang hatte ich von Tradition gesprochen und damit etwas gemeint, dass ich selbst erschaffen hatte. Nun sah ich gewöhnliche Menschen, die in der Mittagspause wie beiläufig in die Kirche huschten, um vor dem Gnadenbild innig zu beten. Seit Jahrhunderten stand es hier. Generationen hatten hier ihre Herzenswünsche ausgeschüttet.
Ich kaufte mir eine Miniatur des Gnadenbilds und nahm sie mit nach Hause. Sie sollte meine Dise sein und auf dem Altar neben den heidnischen Götterbildern stehen. Doch je länger ich meinen Altar umgestaltete, desto düsterer erschienen mir Odin und Thor. Am Ende eines langen Abends war der Altar leergeräumt. Wie eine geschlagene Armee standen die Götterbilder auf dem Boden. Oben thronte die Jungfrau Maria. Und ich fühlte einen Frieden wie seit Kindertagen nicht mehr.
Aus dem heidnischen Altar ist mittlerweile ein kleines Gebetshaus geworden. Noch immer steht die Miniatur des Gnadenbildes im Zentrum. Anstelle der täglichen Meditation ist der Rosenkranz getreten. Ich bete ihn jeden Tag. Aus Dankbarkeit für die Hilfe Unserer Frau vom Finsterwald, so sage ich gerne. Aber eigentlich es geht mir nicht um den Glauben, denn ich bin ein schlechter Gläubiger. Mir geht es um das Ritual. Es ist altbewährt und solide. Es gibt mir eine halbe Stunde am Tag, in der ich auf eine wahrere und tiefere Weise bin, als dass ich es um Trubel des Alltags sein kann.
Ich bin fest überzeugt davon, dass wir Menschen keine Psyche haben, sondern dass wir in der Psyche leben. Um mit ihren Kräften umzugehen, brauchen wir Rituale. So sehe ich auch die Liturgie der Kirche. Mir scheint, dass sie von einer grossen Heilung erzählt, dem Zusammenwachsen einer zerrissenen Welt. Die Beichte, die Wandlung, die Kommunion: Es sind Elemente einer antiken Traumatherapie.
Denn das Christentum war in seinen Anfängen die Religion konvertierter Heiden. Nicht selten waren es Menschen, die Schreckliches erlebt hatten. Legionäre. Prostituierte. Witwen und Waisen. Sie hatten an der Welt gelitten, in der sie lebten. Doch sie glaubten, dass nun ein gewaltiges Ereignis die Macht der alten Götter für immer gebrochen hatte.
Das mit diesen etwas nicht stimmen konnte, war längst bekannt. Ovid beschreibt es ebenso wie die Völuspa aus Island tausend Jahre später: Einst hatten Götter und Menschen in einem goldenen Zeitalter gelebt. Doch die Götter hatten versagt, sich schuldig gemacht, sich im Netz der Notwendigkeiten verfangen. Seither ging es abwärts mit der Welt. Bereits hatte das eiserne Zeitalter, die Wolfszeit, begonnen, und das Ende war nahe. Wenn die frühen Christen die heidnischen Götter als Engel beschrieben, die in der Urzeit gestrauchelt seien und auf der Erde ein Reich des Mutwillens errichtet hätten, bestätigten sie nur, was die Heiden schon lange selber glaubten.
Denn die Welt der alten Götter war hoffnungslos und brutal. Alles drehte sich um Macht und Kraft. Das Heilige war immer dann präsent, wenn sich im Überschwang des Triumphs der Himmel auftat und die Unsterblichen den Sterblichen winkten. Aber hinter der Fassade des Vitalismus lauerte eine uralte Traurigkeit. Letztlich war all dieses heroische Kämpfen und Ringen um Ruhm und Ehre doch ein Tanz mit dem Absurden. Vielleicht brauchte das heidnische Fest deshalb den Rausch. Der nüchternen Betrachtung hielt es nicht stand.
Die junge Kirche sah in den Tugenden der Heiden “glanzvolle Laster”. Einer Welt, in der sich letztlich alles um Selbstbehauptung und Glorie drehte, setzte sie etwas Verborgenes entgegen. Etwas, das ins sich ruhte. Man nannte es “das ewige Leben” oder “das Reich Gottes”. Es erwuchs aus der Leere, die das Erkennen des Absurden hinterlassen hatte.
Man machte die Erfahrung, dass in dieser Leere eine Befreiung lag. Wo der Tanz um das eigene Ego endlich zum Stillstand kam, entstand Raum für die Begegnung mit dem Anderen. Dem anderen Menschen, aber auch jenem “gänzlich Anderen”, das die Christen als DEN Gott proklamierten. Dieser war seinem Wesen nach etwas völlig anderes als das, was die Heiden bisher als Götter verstanden hatten.
Was die Christen als ihren Gott entdeckt hatten, war keine weitere Wirkmächtigkeit im Kosmos. Es war nichts weniger als das absolute Sein. Und dieses dachten sie sich als vollkommene Liebe. Das war keine Schwärmerei, sondern folgte einer durchdachten Argumentation.
Wenn in der Welt alles kausal miteinander verbunden ist, dann ist alles was existiert, durch etwas anderes bedingt. Irgendwo aber, so die Vermutung der Kirchenväter, muss dies auf eine letzte Bedingung führen, die selbst durch nichts bedingt ist. Alles andere wäre keine Erklärung, sondern lediglich ein Eingeständnis des Nichtwissens. Von diesem als einzige mögliche Erklärung angenommenen Unbedingten muss alles Bedingte abhängen. Da das Unbedingte definitionsgemäss keine Bedingung kennt, ist es weder durch Raum noch Zeit noch irgendwelche Umstände begrenzt. Es ruht gänzlich in sich selbst und kennt keine Notwendigkeit und kein Ziel, denn es genügt sich selbst vollkommen. Wenn es also selbst etwas bedingt, dann nur, weil es dies aus sich heraus so will.
Das bedeutet wiederum, dass das Unbedingte als Bewusstsein zu denken ist – ohne Bewusstsein kann es keinen Willen geben. Ohne jede Not, ohne jeden zu erwartenden Vorteil erschafft dieses Bewusstsein aus dem Nichts. Damit ist die Tatsache, dass es überhaupt etwas gibt, auf einen freien, völlig selbstlosen Willensakt zurückzuführen. Das wäre aber nichts anderes als eine Äusserung vollkommener Liebe. Und weil etwas Unbedingtes in seiner Willensäusserung durch nichts beeinflusst werden kann, ist es mit seinem Willen und Tun identisch. Das wiederum bedeutet, dass die erste Bedingung, die alle Existenz bedingt, selbst vollkommene Liebe ist.
Zu einem so verstandenen Gott konnte man sich nicht länger mit blutigen Händen und vollen Weinschalen erheben. Das Opfer, das er forderte, war Liebe für die Menschen und die gesamte geschaffene Welt. Und das erfordert nicht Stolz, sondern Demut. Umkehr. Wer sich dem ewigen Sein, das Liebe ist, zuwandte, sollte nüchtern und wachsam sein. Er sollte aufhören, sich über andere zu erheben und so seine eigene Identität zu vergotten: Seinen sozialen Status, seine Abstammung, seinen Staat, seinen athletischen Körper, seinen Reichtum, seine eigenen Heldentaten.
Im andauernden Gebet sollte der Mensch sich leeren. Er sollte sich seiner Schwäche bewusst werden und lernen, die Fallstricke seiner Leidenschaften zu erkennen. Auf diese Weise sollte er offen werden für das, was wie ein unveränderlicher Himmel über dem Wolkenspiel steht, in dem die Heiden noch ihre Götter erblickt hatten. In diesem neuen Licht schliesslich sollte er Sinn und Heilung finden – um dann andere zu heilen.
Früher war mein Leben nur das Warten auf Grosses, das bald zu geschehen hatte. Reisen, Bergtouren, berufliche Erfolge, all das war ich dem Leben in mir schuldig, so glaubte ich. Aber in die angetrunkene Vorfreude mischte sich stets Furcht und Unzufriedenheit. Ich lebte im Geist der Rebellion. Ich habe meine grossen Träume losgelassen. Sie flogen davon wie Luftballons. Nun stehe ich fester am Boden, um andere stützen und tragen zu können. Damit ist Sinn in mein Leben gekommen.
Wachsam und nüchtern wollten die frühen Christen sein. Wir sind nicht, was wir gerade fühlen. Schon in ein paar Stunden fühlen wir vielleicht anders. Würden wir auf unsere innere Stimme hören, wir wären Narren. Oft genug hat sie uns betrogen und in die Irre geführt. Wir glauben ihr nicht mehr. Die wilden Götter haben ihren Schrecken und ihre Faszination verloren. Sie sind zu Zwergen und Kobolden geworden. Das ist es, was das Christentum mit der alten Welt gemacht hat. Es hat die heidnischen Traditionen nie gebrochen. Es hat sie neu geordnet. Es hat die Verehrung von den diesseitigen Göttern des Lebenskampfes verlagert auf ein Urprinzip, das über dem “Stirb und Werde” steht.
“Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen“, sagte Epiktet, der grosse heidnische Philosoph. Im sanften Licht der wachsamen Nüchternheit verblasst das Schattenspiel der “Urkräfte”, die doch ihrem Wesen nach ebenso flüchtig sind wie wir selbst. Ich weiss, dass ich ohnehin alles annehmen muss. Es bleibt meine Freiheit, zu entscheiden, ob ich es in Angst und Wut tun will – oder in Gelassenheit und Liebe.
Ich glaube, dass wir uns in unserem Leben öffnen können. Und dass wir dann über die Banden unserer biologischen, ethnischen und sozialen Beschränkung hinauswachsen. Sie sind die alte Schlange, die uns von Geburt an umschlingt und trennt vom eigentlichen Sein.
Ich glaube, dass der selbstlose Weg uns an einer Ewigkeit teilhaben, und dass uns der andere an einem kalten und einsamen Ort verharren lässt. Ich glaube, dass sich jeden Tag aufs neue entscheidet, was unser Leben am Ende gewesen sein soll: Öffnung oder Einschliessung.
Ich glaube, dass Heilung geschieht, wenn das ewige Sein sich unvermischt und ungeteilt mit unserem Menschsein verbindet. Ich glaube, dass das ewige Sein, wenn es in einem menschlichen Leben lebt, die Forderung der Bergpredigt erhebt. Ich glaube, dass ich an dieser Forderung nur scheitern kann. Aber auch, dass mir das Licht deswegen nicht verborgen bleibt.
Denn in Maria hat es die ganze geschaffene Welt durchdrungen, und aus ihr scheint es mild und farbenfroh in unser Leben herein. Für mich sind die Titel der Jungfrau mehr als nur poetische Umschreibungen. Sie ist die Morgenröte, sie ist der Baum des Lebens, sie ist der Stern des Meeres und die Königin des Himmels.
Maria ist vom ewigen Sein durchdrungene Sinnlichkeit. Sie trägt Sonne, Mond und Sterne in sich, weil sie in sich aufgenommen hat, was das Universum umfängt.
Maria ist das Ja der Schöpfung zu ihrem Schöpfer, des Daseins zum Sein. In ihr erhebt die Welt sich zu Gott. Sie allein hat der alten Schlange das Haupt zertreten, und durch ihren Körper ist das Licht in die Welt gekommen. In ihr gewinnt der Kosmos die Makellosigkeit zurück, die ihm doch eigentlich eigen ist. Und so ist es auch mit uns, die wir Teil dieses Kosmos sind, und damit Teil von ihr. So ist sie tatsächlich “unser Leben, unsere Wonne, unsere Hoffnung”, wie es die Mönche von Einsiedeln seit Jahrhunderten singen. Jeden Tag.
Herzlichen Dank 🙂
Ganz große klasse! Ich danke dir!